Dem Leben entfliegen

Saßt du schon mal im Bikini in einer Wohnung auf Gran Canaria und hast mit deinem Weinen und Schluchzen die ganze Nachbarschaft unterhalten? – I doubt it. Wie ich an diesem Punkt gelandet bin, wirst du dich jetzt vielleicht fragen. I can tell you.

Vor ein paar Monaten fiel mir Zuhause die Decke auf den Kopf vor lauter Kranksein, wenig machen können und einer kleinen Existenzkrise. Ich wusste, dass ich etwas ändern musste an meinen Lebensumständen, um wieder klarer Denken zu können und entschied entweder (bei meinen Pflegeeltern) ausziehen und erwachsen werden oder alleine reisen und erwachsen werden zu müssen. Turns out die richtigen Connections machen alles möglich. Und drei Monate später sitze ich jetzt hier alleine auf einer Insel im Atlantik, während in Stuttgart meine Pflanzen in meiner ersten eigenen Wohnung auf mich warten.

Über eine random Instagram Story (man muss ja auch mal die Vorteile von den Sozialen Medien betonen!) und Friends von friends von friends habe ich diverse Angebote bekommen wo ich für eine Zeit lang unterkommen und Abstand und frischen Wind in meinem Kopf bekommen könnte. Meine Therapeutin betont schon seit Jahren, dass ich Reisen gehen soll und weg von allem. Weil meine diversen Erkrankungen aber unterschiedliche Bedürfnisse haben und vor allem Me/cfs und Post Covid Reisen eigentlich unmöglich machen, habe ich es lange nicht mal in Betracht gezogen. Meine Comfort Zone zu verlassen bestand die letzten Jahre aus Ärzt*innen- und Krankenhausbesuchen. So gesehen eigentlich auch Soloreisen, weil in die Reha und die OPs und Untersuchungen musste ich immer alleine gehen. Aber das waren und sind alles Reisen, die für meinen Körper notwendig sind. Mein Herz und meine Seele wollen anders reisen. Sie brauchen Wind, Meer und vor allem so groß wie möglichen Abstand zu Wartezimmern und Terminen.

Und so habe ich vor paar Wochen morgens um fünf Flugtickets gebucht für zweieinhalb Wochen alleine auf Gran Canaria. Ohne zu wissen was das bedeuten und wie genau das alles aussehen würde. Ungefähr einen Tag später flatterte eine Einladung zum Bürgerfest des Bundespräsidenten in meine Post und ich musste meine Flüge nochmal umbuchen, um beides machen zu können. Dann fiel unser Familienurlaub spontan aus. Familienurlaube gibt es noch nicht so lange in meinem Leben. Bzw gab es sie früher, bevor ich mit elf dann in die Wohngruppe kam. In den Jahren bis ich dann achtzehn wurde, ging ich eigentlich nie mit, wenn mein Vater im Sommer mit meinen Geschwistern wegfuhr. Das hatte unterschiedliche Gründe, aber wie sehr mir das fehlte und fehlt, merke ich immer noch ständig, vor allem seitdem wir in den letzten zwei Jahren zwei richtig schöne, intense, aber schöne Urlaube hatten, die für mein Herz so wichtig und wholesome waren. Mit meinen Geschwistern Zeit nachzuholen, die wir so viele Jahre nicht gemeinsam hatten, weil wir nicht zusammen aufgewachsen sind, ist so, so wichtig für mich und so kam es, dass ich vor einer Woche nicht alleine, sondern zusammen mit meinen beiden Geschwistern im Flugzeug saß. I tell you, alles an diesem Tag war crazy und besonders. Ich fliege nie und alleine schon das war Abenteuer genug. Dann noch auf eine Insel und das ganz ohne „Erwachsene“, nur wir drei.

Jetzt ist eine Woche rum und ich habe so viel gestritten wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Ich habe gemerkt wie sehr ich Wüsten hasse und Touristenüberfüllte Städte und dass ich meine nächste Reise vermutlich eher in die Arktis als nochmal in die heiße Sonne machen werde. Aber es war eine so, so, so schöne Woche. Obwohl alles ganz anders war als gedacht. Obwohl wir kein WLAN hatten und am ersten Tag die Kakerlaken in der Wohnung, der Stress vom langen Reisetag und der Hunger uns zu kleinen Furien machten. Obwohl mein Kranksein keinen Urlaub macht und ich Tage hatte an denen wir unsere ganzen Pläne canceln mussten wegen mir, ich meine Schmerzgrenze jeden Tag überschritten habe, um nochmal raus zu gehen, nochmal was zu unternehmen und mein Körper immer lieber liegen geblieben wäre. Aber jetzt sitzen meine Geschwister im Flugzeug zurück nach Hause und ich bin immer noch hier. Jetzt alleine. Und ich kann eine Woche rumliegen, wenn ich will. Bürgerfest und spontanem Geschwisterurlaub sei Dank ist es jetzt nur eine Woche, die ich alleine hier abhänge. Denn ich weine, seit ich die nun leere Wohnung betreten habe und frage mich was ich eigentlich hier tue. Warum ich nicht mit meinen Geschwistern im Flugzeug sitze und warum überhaupt das alles? Warum tue ich mir das an? Warum wollte ich unbedingt alleine in den Atlantik fliegen? Obwohl ich zuhause doch alle Menschen habe, die ich liebe und die ich vermisse, auch wenn ich sie erst vor zwei Stunden verabschiedet habe. Aber ganz ehrlich, seit mal alleine auf einer Insel.

(at this point weiß ich, dass Menschen noch viel krassere Dinge tun zB. Ins Weltall fliegen oder zum Studieren in eine andere Stadt ziehen oder oder. Das habe ich alles nicht gemacht, aber wozu denn auch. Ich lieb die Menschen um mich rum und will sie nicht gegen eine bessere Uni in einer anderen Stadt eintauschen und ins Weltall muss ich (vorerst) auch nicht unbedingt. Außerdem ist vergleichen eh unnötig und für mich ist das gerade schon ganz ganz weit außerhalb meiner Comfort Zone.)

Und obwohl mein Herz so sehr schmerzt und ich am liebsten das nächste Flugzeug nach Hause nehmen würde, weiß ich, dass das hier wichtig ist für mich. Für mein gerade schmerzendes Herz. Und wenn ich eins in der letzten Woche gelernt habe, dass es manchmal besser ist, es einfach wie meine Schwester zu machen, die sich in die nächste auf sie zukommende Welle stürzt, bevor diese sie mitreißen kann. Und so ist es mit dem Schmerz auch. Augen zu und durch, I guess. Ich weiß, dass mein Herz das hier gerade braucht.

Das Vermissen, weil das zeigt, was ich alles habe, was und wer Zuhause wartet und dass es ein Zuhause gibt, auf das ich mich freuen kann. Und dass ich mich vielleicht noch öfter nachts in das Bett meiner Schwester kuscheln werde, statt in mein eigenes. Und dass ich (in nächster Zeit) erstmal nicht für länger als eine Woche alleine weit weg verreisen oder umziehen werde.

Den Abstand, weil ich so müde von meinem va Kranksein-Alltag und allem was da mit dranhängt bin. Weil ich mal was anderes sehen muss und mein Kopf ne Brise Sand, Wind und neue Gedanken und Ideen braucht. Weil ich Träumen muss und das (zumindest in meiner Vorstellung) auf einer Insel am Strand besser geht, als in Stuttgart.

Eine Reise für mich ganz allein, weil sich mein Leben ganz viel um andere(s) dreht. Und Zeit für sich irgendwie besser geht, wenn man alleine ist. Weil ich heilen muss von vielen Jahren Jugendhilfe und Schmerz. Und weil das hier eine Reise und kein Urlaub ist, kann und darf das auch wehtun. Vielleicht muss es auch wehtun und es scheint logisch, dass Angst- und Essstörung hier erstmal stärker werden aktuell. Mein Körper kann gar nicht anders, aber ich will mit meinem Körper lernen, dass es anders geht. Ich will mit mir und für mich heilen.

Deswegen buche ich (zumindest vorerst) meinen Flug zurück nicht um. Deswegen bleibe ich hier. Sammel schöne Erinnerungen und stürze mich gleich, wenn ich mit Weinen fertig bin, in die Wellen.

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ich will deine Hoffnung sein